Donnerstag, 30. Mai 2013

Ted van Lieshout: Bruder

Bruder
Ted van Lieshout

Gebundene Ausgabe: 173 Seiten
Verlag: Middelhauve (1999)
ISBN-13: 978-3787696789


Klappentext

Im September 1972 stirbt Marius. Er wurde nur vierzehn Jahre alt. Nach sechs Monaten räumt die Mutter sein Zimmer endlich leer und beschließt, seine Sachen zu verbrennen. Luuk, der Bruder, findet dabei das Tagebuch von Marius. Vor einigen Jahren hat er es ihm zum Geburtstag geschenkt, und er beginnt zu lesen. Noch einmal kommt es zu einer Annäherung an den Verstorbenen: Luuk beginnt Marius' Aufzeichnungen zu kommentieren. "Du bist ganz allein gestorben. Ich hoffe, du hast es nicht gemerkt, dass du stirbst. Ich hoffe, dass du geschlafen hast. Oder dass du zufällig ein letztes Mal geblinzelt hast und über deine Wimpern gestolpert bist.

Für den Leser entwickelt sich ein sehr dichtes Bild der schwierigen Beziehung zwischen den ungleichen Brüdern. "Kannst du noch jemandes Bruder sein, wenn dieser Jemand nicht mehr lebt?" In der Rückschau werden die ersten Symptome der tückischen Krankheit von Marius sichtbar, seine vielen vergeblichen Bemühungen mit dem Bruder ins Gespräch zu kommen. Und im Nachhinein stellt sich auch heraus, dass die beiden Brüder sich mit demselben Problem, der Homosexualität, herumgeschlagen haben.

In Deutschland erhielt der Niederländer Ted van Lieshout für sein Jugendbuch Bruder die höchste Auszeichnung in seiner Sparte, den Deutschen Jugendliteraturpreis 1999. Und in der Tat hat die Jury mit dieser Wahl eine äußerst glückliche Hand bewiesen, denn Bruder gehört uneingeschränkt zu den schönsten Jugendbüchern.


Frankys Kritik

Nach „Paul, mein großer Bruder“ von Håkan Lindquist ist „Bruder“ ein Buch mit einem ähnlichen Thema. Auch hier findet eine Annäherung zweier Brüder nach dem Tod des einen statt und das Tagebuch des Toten spielt eine zentrale Rolle. Doch während sich in der Geschichte von Lindquist die Brüder nicht gekannt haben und das nachträgliche Kennenlernen im Mittelpunkt steht, geht es von Lieshout um Abschied und die Bewältigung des Verlustes, um das Erkennen der eigenen Sterblichkeit und die Erforschung des Wesens von Individuen, die man zu kennen geglaubt hat. Luuk dringt immer tiefer in die spärlichen Aufzeichnungen seines verstorbenen Bruders ein, erkennt erst jetzt ihre Gemeinsamkeiten und lernt, sein eigenes Empfinden und Fühlen richtig einzuordnen.

Das Ganze gestaltet Lieshout durch die Vermischung zweier Tagebücher, die mehr und mehr ineinanderfließen und in ein (fiktives) Zwiegespräch der Brüder mündet. Sehr gefühlvoll berichtet Luuk vom langsamen Sterben seines Bruders und lässt uns erkennen, dass mehr zurückbleibt, als nur die bloße Erinnerung an einen toten Jungen.

Für ein Jugendbuch (für das ich den Roman nicht in erster Linie halte) inhaltlich schon recht schwere Kost, die sich aufgrund der Sprache des sechszehnjährigen Erzählers aber leicht lesen lässt, wenn auch über weite Passagen mit einem Kloß im Hals. Einfühlsam, bewegend und trotz des tieftraurigen Themas doch auch hoffnungsvoll stimmend.



Samstag, 25. Mai 2013

André Aciman: Ruf mich bei deinem Namen

Ruf mich bei deinem Namen
André Aciman

Taschenbuch: 288 Seiten
Verlag: Deutscher Taschenbuch Verlag (1. Juni 2010)
ISBN-13: 978-3423138949


Klappentext
Völlig unvorbereitet trifft Elio seine erste große Liebe: Oliver ist für sechs Wochen bei Elios Familie an der italienischen Riviera zu Gast, wo der Harvard-Absolvent sein Buch über Heraklit beenden will. Oliver, der wie Elio jüdische Wurzeln hat, ist weltgewandt, intelligent, schön. Oliver ist alles, was Elio will, vom ersten Moment an. Ein fast unerträgliches Spiel von Verführung und Zurückweisung beginnt und wächst sich allmählich zur Geschichte zweier Seelenverwandter aus, die wissen, dass diese Liebe die vollkommenste und zugleich unmöglichste ihres Lebens sein wird. In einem kurzen Sommer zwischen Obsession und Angst, Verlangen und Verzweiflung suchen zwei Menschen nach dem Augenblick der absoluten Erfüllung: dass jeder sich in den Andern verwandle.


Frankys Kritik

Ein Buch, das mich hin- und hergerissen hat und bei dem ich mich mit einer Beurteilung etwas schwer tue. Auf der einen Seite besitzt es durchaus seine Momente, die mich gefesselt und fasziniert haben. Andererseits machen es mir Form und Sprache nicht gerade leicht.

Beginnen wir einfach mit dem, was mir nicht gefällt:

Das Buch besitzt keine Kapitel, sondern nur vier mehr oder weniger lange Teile. Auch Absätze sucht man oftmals vergeblich. Das passt natürlich zur Gedankenwelt Elios, die der Roman in einem nahezu endlos langen Monolog wiedergibt, lässt sich aber häppchenweise (und wer hat schon die Möglichkeit, ein Buch am Stück zu lesen) nur erschwert delektieren.

Die Geschichte kreist weniger um die erwachende Liebesbeziehung der beiden Protagonisten, als vielmehr um die Selbstzweifel Elios über seine eigene Orientierung. Das spiegelt sich in der Sprunghaftigkeit seiner sexuellen Begierden (und Taten) wider, reibt sich aber derart mit den eigenen – gedanklichen – Liebesbekundungen und Wünschen, dass es stellenweise nur schwer nachzuvollziehen ist.

Dementsprechend mag es nur konsequent sein, dass eine Entwicklung der Protagonisten nicht stattzufinden scheint. Man dreht sich im Kreise und ist am Ende des Sommers wieder an dessen Beginn angekommen. Womöglich gewollt empfinde ich als Leser diesen Zirkelschluss dennoch unbefriedigend. Nur im letzten Teil, in dem die Figuren nach Jahren auf diesen gemeinsamen Sommer zurückblicken, lässt eine späte Erkenntnis zu.

Gefallen hat mir die Beschreibungen des Sommers, der Landschaft, der Annäherung der Personen, welche die Hitze und die Leidenschaft regelrecht spürbar machen. Die Momente des Glücks, der Gemeinsamkeit, des Zusammenseins ziehen den Leser in ihren Bann. Auch schließlich der vierte und letzte Teil weiß zu fesseln und weckt in mir sogar die stärksten Emotionen.

So hinterlässt das Buch für mich einen bittersüßen Nachgeschmack von Wehmut und den Wunsch, dass nicht nur diese Geschichte hätte ein wenig anders verlaufen mögen.




Samstag, 18. Mai 2013

Sergej Lukianenko: Der Herr der Finsternis

Der Herr der Finsternis

Sergej Lukianenko
 
Taschenbuch: 416 Seiten
Verlag: Heyne Verlag (8. Juni 2010)
ISBN-13: 978-3453527119




Klappentext
 

Finsternis liegt über der Welt, seitdem die Diener der Dunkelheit der Menschheit das Sonnenlicht genommen haben. Doch als der junge Danka eines Tages einen Lichtstrahl beobachtet, der sich vor seinen Augen in eine geheimnisvolle Katze verwandelt, beginnt für ihn das Abenteuer seines Lebens. Denn die Katze entführt ihn in ein fantastisches Reich, wo Danka dazu ausersehen ist, den mächtigen Herrn der Finsternis zu besiegen – oder für immer in der Dunkelheit zu bleiben ...


Frankys Kritik

Ein Märchen, das auch von Erwachsenen mit Spannung gelesen werden kann. Die Grundidee – Junge gelangt in eine Parallelwelt, die es zu entdecken und zu retten gilt – ist nicht unbedingt neu. Lukianenko gelingt es aber, diese andere Welt nicht nur phantasievoll und dicht zu beschreiben, er trägt auch einige interessante Aspekte und Details zusammen. So fasziniert die Beschreibung, dass heranwachsende Jungs zu „Flügelträger“ werden, und bei ihren Abenteuern durch die Lüfte fliegen. Der Autor nimmt sich augenzwinkernd Anleihen bei diversen Jugendklassikern, sei es Peter Pan oder die unendliche Geschichte, ohne diese aber zu kopieren. Schnell wird der Leser in die Geschichte hineingezogen und er mag das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen.

Ein wenig Kritisches darf trotzdem angemerkt werden. Zum einen erfahren wir sehr wenig über den Hauptprotagonisten. Danka betritt die Bühne der Geschichte als ein geradezu unbeschriebenes Blatt. Das behindert die im Buch angedeutete Entwicklung ein wenig und läßt so manche Entscheidung des Jungen unmotiviert erscheinen. Zum anderen hätte ich mich über eine, vom üblichen Schema des finalen, gewaltsamen Schlusskampfes zwischen Gut und Böse abweichende Lösung gefreut. Inhaltliche Möglichkeiten hätten sich durchaus angeboten. Vor allem, da Lukianenko die Grenzen von Gut und Böse im Verlauf der Geschichte zunehmend aufzuweichen vermag.

Interessant ist die mit der fortschreitenden Handlung immer stärkere Konzentration der Geschichte auf die Beziehung von Danka zu seinem neuen Partner in der anderen Welt, die deutlich über eine Jungenfreundschaft hinaus zu reichen scheint. Auch wenn sich der Autor in dieser Hinsicht jegliche direkte Andeutungen versagt. Aus diesem Grund ist meine Einordnung dieses Buches in die Kategorie "Schwule Bücher" auch mit einem halben Augenzwinkern zu betrachten.



Freitag, 10. Mai 2013

Håkan Lindquist: Paul, mein großer Bruder

Paul, mein großer Bruder
Håkan Lindquist

Broschiert: 174 Seiten
Verlag: Gmünder; Auflage: N.-A. (2007)
ISBN-13: 978-3861874324


Klappentext


 Eine Liebe größer als ein Leben... Jonas hatte einen Bruder. Dieser starb allerdings, bevor Jonas geboren wurde. Eines Tages findet er die alte Jacke seines Bruders auf dem Dachboden. In einer der Taschen liegt ein Brief. An wen ist er gerichtet? Und weshalb liegt der Brief in der Jackentasche seines Bruders? Jonas hat viele Frage zu seinem Bruder, und so beginnt er nach Anhaltspunkten und Erklärungen zu suchen. Schritt für Schritt setzt sich daraus das Bild des Bruders zusammen. Jonas begreift, dass dieser kurz vor seinem Tod eine intensive Liebesbeziehung zu einem anderen Jungen unterhielt. Eine Liebesbeziehung, die fortlebt.


Frankys Kritik
 

Ein Buch, dass sich flott weglesen lässt, eine Geschichte, die den Leser in seinen Bann zu ziehen weiß. Die Detektivarbeit des jüngeren Bruders, der mehr über den Jungen erfahren möchte, den er nie kennengelernt hat, mit dem der sich aber mehr und mehr verbunden fühlt, macht aus dem kleinen Sujet etwas ähnliches wie einen Krimi und verbindet ihn mit der Liebesgeschichte des großen Bruders, die durch Erzählungen, Briefe und ein Tagebuch noch einmal auflebt. Die Identifikation Jonas mit seinem toten Bruder geht so weit, dass er Überlegungen tätigt, ob nicht ein Teil von Pauls Wesen in ihm selbst weiterlebt. Das lässt sich alles sehr schön lesen, und wurde mit viel Gefühl aber ohne Pathos auf die Buchseiten gebracht. Als kleiner Kritikpunkt sei angemerkt, dass wir sehr viel über Paul erfahren – der gestorben ist – aber nur sehr wenig über Jonas – der noch lebt. Das ist schade, denn es macht Pauls Suche zu einer Art Obsession, die eigene Gefühlen und Einsichten über die reine Bruderliebe hinaus nicht zulässt. Womöglich mit ein Grund für die Kürze des Buches, das den Wunsch nach mehr mit sich trägt. Trotz allem eine schöne, eine bewegende und eine spannende Geschichte.


Samstag, 4. Mai 2013

Bernard Beckett: Das neue Buch Genesis

Das neue Buch Genesis
Bernard Beckett

Gebundene Ausgabe: 171 Seiten
Verlag: Script5 (15. September 2009)
ISBN-13: 978-3839001035


Klappentext

 Dies ist unsere Geschichte, wie man sie uns gelehrt hat. Das ist unsere Genesis. Ein Land, abgeschottet vom Rest der Welt, am Ende des 21. Jahrhunderts: Anax steht vor der Prüfungskommission der Akademie. Fünf Stunden hat sie Zeit, um zu beweisen, dass sie würdig ist, in diese mächtige Institution aufgenommen zu werden. Ihr Prüfungsthema kennt sie so gut wie ihre eigene Geschichte: Adam Forde ist der Held ihrer Kindheit, der Mann, dessen Rebellion die Geschichte ihres Landes für immer prägte. Doch Anax weiß längst nicht alles über die Rolle, die Adam gespielt hat. Sie muss einsehen, dass die Geschichte, wie sie sie kennt, eine Lüge ist. Und dass die Akademie nicht ist, was sie scheint. Ein meisterhaft gestrickter Roman über das Wesen des Menschseins mit einer verstörenden Auflösung.


Frankys Kritik

 Schon wieder ein kurzes Buch, mit denen ich mich bekanntlich schwer tue. Doch die Geschichte besticht durch einen interessanten Ansatz und mit einer ungewöhnlichen Form. In fünf Stunden mündlicher Prüfungszeit erfahren wir rückblickend alles über einen Volkshelden, sein Leben und sein Wirken in einer Art Zwiegespräch zwischen Prüfling und Prüfer. Dabei breitet sich das Panoptikum einer Dystopie vor uns aus, eine postapokalyptische, isolierte Gesellschaft wird beschrieben. Dabei wandelt sich das Thema von Buch und Prüfung langsam von der (fiktiven) Geschichtsschreibung über die Heldenbiografie hin zu einem Diskurs über Ethik und künstliche Intelligenz.

Der doppelte Twist am Ende des Buches wirkt so überraschend nicht, da man bereits im Klappentext auf eine ungewöhnliche Auflösung hingewiesen wird. So empfand ich das Finale eine wenig knapp geraten. Der Autor wollte sich vermutlich nicht mit langwierigen Erklärungen die Wucht der Überraschung nehmen lassen. Deshalb bleibt einiges ein wenig in der Luft hängen und muss vom Leser selbst zusammengereimt werden.

Als Kritikpunkt sehe ich, dass die Figur der Hauptprotagonistin ein wenig farblos bleibt. Man erfährt recht wenig über ihr Vorleben und ihre Meinung, da letztere innerhalb der Prüfung außen vor zu bleiben hat. Diese Unterlassung ist angesichts des Finales durchaus verständlich, wäre erzähltechnisch aber durchaus lösbar gewesen.

So bleibt ein interessantes Buch mit einem interessanten Thema, das eigentlich nach etwas mehr verlangt. 


Mittwoch, 1. Mai 2013

Anneke Scholtens: Abel

Abel
Anneke Scholtens


Gebundene Ausgabe: 137 Seiten
Verlag: Männerschwarm; Auflage: 1., Aufl. (März 2007)
ISBN-13: 978-3939542032


Klappentext
Während der Schulzeit hat Bart eine Erfahrung gemacht, über die man besser nicht spricht: sein bester Freund hat sich in ihn verliebt. Das ist peinlich und macht Angst. Nicht, weil man den anderen nicht mag, sondern weil der andere ein Junge ist. Als dann die Mitschüler anfingen, die beiden als Liebespaar zu verspotten, war endgültig Schluss. Jahre später erfährt er von Abels plötzlichem Tod. Erinnerungen kommen hoch und Bart hat Schuldgefühle, weil er Abel zurück gewiesen hat, weil seine Freundschaft nicht stark genug war, um die mehr als schüchternen Annäherungsversuche zu verkraften. Noch jetzt kann er seiner Freundin nicht die Wahrheit sagen, doch Roos merkt schnell, dass er eine Leiche im Keller hat, und reagiert wütend auf sein ständiges Ausweichen. Bei Abels Beerdigung zeigt sich, dass auch Eltern und Mitschüler auf recht eigenartige Weise mit der Vergangenheit umgehen.


Frankys Kritik

Eigentlich mag ich keine kurzen Bücher. Und dieses Buch ist kurz, verdammt kurz. 137 Seiten bei einem sehr großzügigen, fast schon verschwenderischen Satzspiegel könnten im Taschenbuchformat leicht auf gerade mal 60 Seiten untergebracht werden. Trotzdem haben wir es auf Grund der textlichen Form mit einem Roman zu tun, der sich sprachlich sehr locker herunter liest. Inhaltlich wird man allerdings öfters einmal gezwungen, kurz inne zu halten, um das gerade gelesene zu reflektieren. Es ist schon erstaunlich, wie viel die Autorin in diesem kurzen Text hat unterbringen können. Ein Coming Out aus der Sicht des heterosexuellen, besten Freundes, dem die Liebe gilt, der sie aber nicht erwidern kann, weicht zudem vom üblichen Aufbau einer solchen Geschichte ab. Der deutsche Titel konzentriert sich durch die sich aufdrängende Analogie zu Kain & Abel auf die Schuldfrage, was meiner Meinung nach nicht gerechtfertigt ist. Der Originaltitel – übersetzt „Er war mein Freund“ – gefällt mir da besser.

Zusammengefasst ein Büchlein, das mir deutlich länger im Gedächtnis bleiben wird, als ich daran gelesen habe. Das können nicht allzuviele Bücher von sich behaupten.